Wozu Literatur lesen? Der Beitrag des Literaturunterrichts zur literarischen Sozialisation - Praktiken und Normen des Lesens von Literatur im Deutschunterricht der Hauptschule (5. und 6. Schuljahr)
Projekt - Fak. 2 - Deutsch (mit Sprecherziehung)
Status:abgeschlossen
Kurzinhalt:Bisher wissen wir nur wenig über die unterrichtlichen Praktiken des Lesens von (literarischen) Texten und ihren Einfluss auf das Leseverhalten von Schülerinnen und Schülern in der Hauptschule. Leider muss man nach Untersuchungen aus dem Bereich der Lesesozialisationsforschung und Lesebiographieforschung davon ausgehen, dass die Schule insgesamt für Schülerinnen und Schüler noch zu wenig Gelegenheiten bietet, genussvolle literarische Erfahrungen zu machen oder weiterführende Lesekompetenzen zu erwerben. Dies liegt einerseits daran, dass Lehrerinnen und Lehrer implizit von einem Begriff des Lesens und Lesen-Lernens ausgehen, in dem die heterogenen Erfahrungen ihrer SchülerInnen mit Sprache, Schrift und Literatur nicht aufgehoben sind. Andererseits verfügen gerade die Schülerinnen und Schüler in der Hauptschule häufig nicht über die lesebiographisch sozialisatorisch bedeutsamen Erfahrungen mit Literatur, die quasi ?wie von selbst? zur Ausbildung von Leseinteressen und stabilen Lesehaltungen führen. Es sind gerade diese Erfahrungen, die den Erwerb von Lesekompetenzen oder literarischen Rezeptionskompetenzen erheblich erleichtern.
Der empirische Teil der Arbeit umfasst die Beobachtung und Analyse von Literaturunterricht in sieben Hauptschulklassen aus Baden-Württemberg und Hessen und Interviews mit den Deutschlehrerinnen dieser Klassen. Mit Hilfe der Untersuchung werden die verschiedenen unterrichtlichen Praktiken des Lesens und Verstehens von Literatur in den Blick genommen. Diese Praktiken wurden daraufhin betrachtet, inwieweit sie geeignet sind, Kindern und Jugendlichen beim Erwerb von literarischen Rezeptionskompetenzen zu unterstützen, darüber hinaus sollte über die Beobachtung der Handlungen der Lehrkräfte eine Aussage darüber gemacht werden, welches praktische professionelle Handlungswissen die Lehrkräfte im Alltag ?haben?. Das practical professional knowledge (ppk) der Lehrkräfte ist didaktisch besonders deshalb von Interesse, weil angenommen werden muss, dass Lehrerinnen und Lehrer im Unterricht nicht nach didaktischen und pädagogischen Modellen handeln, sondern vielmehr nach ihren im Laufe des Lebens erworbenen Alltagstheorien.
In der Deutschdidaktik ist in den letzten Jahren vereinzelt versucht worden, die Grundlagen für ein Erwerbsmodell ?Literatur-Erwerb? zu beschreiben, darauf aufbauend wird in der Arbeit die Modellierung des Gegenstandes ?literarischer Text? im Rahmen eines Format orientierten Literatur-Erwerbsmodells vorgenommen.
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Ergebnis:Die Auswahl der Texte wie auch der Verfahren des Literaturunterrichts dient ausgesprochen häufig dem Ziel, sich mit einer Figur zu identifizieren. Damit verbunden ist ein weiteres wichtiges Auswahlkriterium für die Unterrichtsmaterialien und literarischen Texte im beobachteten Deutschunterricht der Hauptschule, nämlich die Arbeit an Themen. Die inhaltliche Fokussierung geht meist einher mit der Einschätzung, dass mit dem Thema ?Lebensweltprobleme? der SchülerInnen zusammenhängen. Konsequenterweise sind die literarischen Texte so ausgesucht, dass sie einen Ertrag bringen für verschiedene Lernbereiche: Rechtschreibung, soziales Lernen, Lesenlernen, Texte schreiben usw. Deshalb greifen die Lehrerinnen und Lehrer der Grund- und Hauptschule häufig zu ?Problemtexten?. Aus Umfragen wissen wir, dass Schülerinnen und Schüler ihre Lieblingslektüren im Bereich der Spannung, des Abenteuers ansiedeln, es gibt also offensichtlich eine Diskrepanz zwischen kindlichem und jugendlichem Rezeptionsinteresse und der Konstruktion dieses Interesses seitens der Lehrkräfte.
Die mit der intimen Leseweise verbundenen Initiativen zur Entwicklung eines eigenen Leseinteresses, Bezugnahmen zur eigenen Lebenswelt können die Probleme schriftfern sozialisierter Leserinnen und Leser in der Hauptschule kaum lösen. Andere Lesekonstruktionen wie eine instrumentelle Lesehaltung dürften mit dem Unterricht zwar angezielt werden, es fehlt aber meist an der sinnvollen Rahmung der Maßnahmen und der Ziele. Das Verhältnis von Lesekonstruktion und Praktiken scheint durch das Prinzip ?Primat der Methode? geprägt zu sein oder wird dadurch geprägt, dass die allgemeinen Sprach- und Schriftprobleme der SchülerInnen gelöst werden sollen. Insgesamt wird das Vorgehen im Unterricht an unterschiedlichen Verstehensschwierigkeiten orientiert. Es werden kaum operative oder reflexive Formen des Umgangs im Zusammenhang mit den zu erwerbenden Leseweisen vermittelt. Die fachfremd Unterrichtenden greifen in ihrer Unterrichtsgestaltung und bei der Auswahl der Texte auf eigene Erfahrungen und das didaktische Brauchtum zurück.
Insgesamt ist festzuhalten, dass die Fähigkeiten und Fertigkeiten zum Aufbau einer literarischen Rezeptionskompetenz, die im Unterricht besonders gefördert oder abgefragt werden, sich primär auf den Aufbau von sprachlichem Wissen und einem für den Text eher unspezifischen Weltwissen beziehen. Der Leseprozess ist als ?bersetzungsprozess gestaltet, es gibt kaum Gelegenheit, individuelle Leseerfahrungen zu machen, den Leseprozess abzubrechen, neu aufzunehmen, zielführende Formen des Umgangs für die individuellen Lese- und Verstehensprobleme zu erwerben. Das größte Problem des beobachteten Unterrichts scheint aber darin zu liegen, dass zwischen dem Erwerb der grundlegenden Lesefähigkeit und den hierarchiehohen Leseleistungen kaum didaktische Brücken gebaut werden.
Auch die Auswahl der Texte erscheint problematisch: Der angenommene Lebensweltbezug ist weniger naheliegend als die Lehrerinnen vermuten, die sprachliche Schlichtheit einiger Texte wird die Schülerinnen und Schüler kaum herausfordern. Andererseits bergen die Texte sprachliche Schwierigkeiten, die kaum in den Blick kommen, wenn vom direkten lebensweltlichen Bezug auf der Ebene des Ausgesagten ausgegangen wird. Fehlende konzeptionell schriftsprachliche Medienerfahrungen können durch einen qualitativ reduzierten Anspruch an kinder- oder jugendliterarische Texte und damit verbundene Lektürepraktiken nicht aufgefangen werden.
Die Frage ist nicht nur, wie die Schule die Heranwachsenden in der Hauptschule noch stärker zum Lesen ermuntern kann, sondern wie im Unterricht literarische Erfahrungen gemacht werden können, die den festen Grund für die Ausbildung einer literarischer Rezeptionskompetenz bilden und wie zu
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Projektdauer:01.01.2001 bis 31.12.2007
Projektbeteiligte:
Dr. Gölitzer, Susanne (Leitung) [Profil]


Verweis auf Webseiten:
Projekthomepage
Homepage von Susanne Gölitzer
Angehängte Dateien:
keine
Erfasst von Dr. Susanne Gölitzer am 22.10.2007
Zuletzt geändert von Dr. Gölitzer, Susanne am 20.02.2020
    
Projekt-ID:64